Chr. M. Merki (Hrsg.): Europas Finanzzentren

Cover
Titel
Europas Finanzzentren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Merki, Christoph Maria
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patrick Halbeisen

Der von Christoph Maria Merki herausgegebene Tagungsband zur Geschichte der europäischen Finanzzentren im 20. Jahrhundert behandelt ein von der Geschichtsschreibung noch wenig erforschtes Thema. Das hängt zweifellos auch mit dem Gegenstand zusammen. Schwierigkeiten ergeben sich nur schon bei der Definition. Finanzplätze haben im Laufe der Entwicklung unterschiedlichste Funktionen erfüllt und kommen auch heute noch in verschiedenen Ausprägungen vor. Viele relevante Fragen sind komplex und lassen sich auch nur begrenzt mittels Theorien beantworten. Wie die verschiedenen Institutionen eines Finanzplatzes zusammenspielen und wie die einzelnen Finanzzentren untereinander verknüpft sind, hängt von den konkreten Umständen ab. Dasselbe gilt für die Frage nach den Faktoren, die darüber entscheiden, ob sie sich konkurrenzieren, ergänzen oder ob sie gar kooperieren. Aus diesen Gründen empfiehlt sich eine historische und vergleichende Betrachtungsweise wie im vorliegenden Band.

Mit London, Frankfurt, Paris und Amsterdam kommen vier alte, mit der Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein sowie den Kanalinseln Jersey und Guernsey vier neue Finanzzentren zur Darstellung. Der dritte Teil ist vergleichenden Fragestellungen gewidmet. Die Beiträge zeigen auf eindrückliche Weise, wie stark die Geschichte der Finanzzentren durch ihr regulatorisches Umfeld bestimmt wurde. Obwohl die Beiträge jeweils einzelne Finanzzentren resp. Einzelaspekte behandeln, vermittelt die Lektüre des Bandes doch einen guten Überblick über die europäische Entwicklung.

Finanzzentren benötigen ein gewisses Mass an wirtschaftlicher Offenheit, um eine bedeutende Rolle spielen zu können. Im 20. Jahrhundert war dies insbesondere bis zum Ersten Weltkrieg der Fall und dann wieder seit den 1980er Jahren. In diesen beiden Perioden spielte die City von London nicht nur unter den europäischen Finanzzentren, sondern auch weltweit eine herausragende Rolle. London war schon seit dem Mittelalter aufgrund seiner Funktion als Hauptstadt, seines Reichtums und seines Hafens, ein bedeutender nationaler Finanzplatz gewesen. Seit den 1870er Jahren begann die City jedoch, Geld aus der ganzen Welt anzuziehen, um damit den internationalen Handel zu finanzieren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war sie schliesslich zum internationalen Bankenzentrum der Weltwirtschaft aufgestiegen. Technische Innovationen wie die Telegrafie und später das Telefon erlaubten eine räumliche Trennung zwischen Transport, Handel und Finanzierung. Entscheidend war jedoch das weitgehende Fehlen von Regulierungen. Die wichtigste Rahmenbedingung war der Goldstandard, der für stabile Währungsverhältnisse sorgte. Andere Länder waren gegenüber Marktlösungen skeptischer, was zu einer Abwanderung von Geschäften nach London führte. So kam es der City zugute, dass Deutschland in seinem Börsengesetz von 1896 das Warentermingeschäft verbot. Dies hatte für Deutschland weitreichende Folgen, da der Markt teilweise durch institutionelle Übereinkommen und Kartelle ersetzt wurde und eine Entwicklung anbrach, bei der die Kapitalmärkte eine im Vergleich zu den Banken geringe Bedeutung hatten. Gemessen am Börsenumsatz lag denn auch Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs weit hinter London und Paris, gefolgt von Wien resp. Amsterdam und Mailand. Der Pariser Kapitalmarkt konnte von der Stellung des Franc als Währung der Lateinischen Münzunion und regelmässigen Zahlungsbilanzüberschüssen profitieren.

Der Erste Weltkrieg beendete den Goldstandard und führte zu einer massiven Einschränkung des globalen wirtschaftlichen Austausches, womit die erste Blüte der internationalen Finanzzentren zu Ende ging. Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre und den Zweiten Weltkrieg nahmen die Finanzzentren immer stärker einen nationalen Charakter an.

Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten sowie die durch den Krieg dauerhaft erhöhten Steuern führten mit den Offshore-Plätzen zur Entstehung eines neuen Typus von Finanzzentrum. Diese Zentren zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Finanzdienstleistungen weitgehend von der einheimischen Wirtschaft abgekoppelt und die staatlichen Regulierungen so ausgestaltet sind, dass sie für bestimmte ausländische Geschäfte möglichst attraktiv sind. Nachdem die Habsburgermonarchie zusammengebrochen war, verfolgte beispielsweise das Fürstentum Liechtenstein in den 1920er Jahren mit grosser Konsequenz eine entsprechende Strategie. Das Steuergesetz privilegierte Domizilgesellschaften, und die Übernahme des Schweizer Frankens verhalf Liechtenstein zu einer stabilen Währung. Das Personen- und Gesellschaftsrecht von 1926 und 1928 ermöglichte schliesslich Gesellschaftsformen, die es erlaubten, die aufgrund des Zollvertrags mit der Schweiz fälligen Stempelabgaben im Wertpapiergeschäft zu umgehen. Dieses Set von Institutionen führte zusammen mit den Abwicklungsmöglichkeiten im nahe gelegenen Finanzzentrum Zürich zu einem phänomenalen Wachstum steuerbegünstigter Holding- und Sitzgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichbare Strategie verfolgten in den 1950er Jahren die beiden Kanalinseln Jersey und Guernsey. Als direkt der englischen Krone unterstellte Selbstverwaltungsgebiete profitierten sie von einer verfassungsmässigen Sonderstellung, die ihnen eine von Grossbritannien unabhängige Festlegung von Gesetzen und Steuern erlaubte, während sie wie Liechtenstein mit London von einem nahegelegenen internationalen Finanzzentrum profitierten. Sowohl Liechtenstein als auch Jersey und Guernsey waren mit ihrer Wirtschaftspolitik sehr erfolgreich, kamen aber in den letzten Jahren wegen ihrer liberalen Gesetzgebung international unter Druck und mussten sich den üblichen Standards ein Stück weit anpassen.

Die bis Anfang der 1980er Jahre herrschenden Regulierungen der Finanzmärkte und des Kapitalverkehrs wurden in den verschiedenen Ländern unterschiedlich gehandhabt. Dementsprechend profitierten die Finanzplätze in unterschiedlicher Weise vom wieder erwachenden internationalen Geschäft nach dem Übergang zur Konvertierbarkeit der wichtigsten Währungen Ende der 1950er Jahre. So führten Regulierungen in den USA und Zinsunterschiede in den 1960er Jahren zur Entstehung von Dollargeschäften in Europa, die gewissen Finanzzentren einen neuen und ungemein dynamischen Aufschwung brachten. Von diesen Eurodollarmärkten konnten vor allem London und Luxemburg profitieren, während Deutschland und die Schweiz negative Rückwirkungen auf ihre Währungen befürchteten und darum das neue Geschäft mittels Regulierungen wie Mindestreservevorschriften und Steuern verhinderten. Die Schweiz setzte statt dessen auf ihre traditionellen Stärken wie Neutralität, politische und wirtschaftliche Stabilität, starke Währung und das Bankgeheimnis, welches trotz aller internationaler Anfechtungen bis in die Gegenwart beibehalten wurde.

Mit den Liberalisierungen im Finanzbereich seit den 1980er Jahren errangen die internationalen Finanzzentren wieder eine vergleichbare Bedeutung wie vor dem Ersten Weltkrieg. London steht auch heutzutage wieder an der Spitze; wobei es diesen Platz mit New York teilen muss. Diese Entwicklung wurde auch weitgehend durch die Technologie geprägt, welche ihrerseits die Entwicklung von neuen Geschäftsformen wie die Finanzderivate massgeblich beeinflusste. Ein interessanter Beitrag des Bandes zu der an den Börsen eingesetzten Technik macht deutlich, dass sich neue Technologien oft nur verzögert durchsetzen, weil die Nutzniesser der herkömmlichen Systeme sich gegen die Innovationen zur Wehr setzen.

Die zwölf fundierten und faktenreichen Beiträge regen zu weiteren Untersuchungen an. So wäre beispielsweise ein vertiefter Vergleich der Entwicklung in den Niederlanden und in der Schweiz sehr interessant, da die institutionellen Voraussetzungen in beiden Ländern bis zum Zweiten Weltkrieg verblüffend ähnlich waren. Auch die in einzelnen Beiträgen geäusserte These, dass der Erfolg eines Finanzzentrums in Zukunft weniger von vorteilhaften Regulierungen, sondern von der Innovationsfähigkeit in der Informationsverarbeitung und Kommunikation abhängt, ist bedenkenswert. Ebenso wie die Empfehlung, diese Perspektive auch im Hinblick auf die Untersuchung vergangener Entwicklung einzunehmen – auch wenn die methodologischen Fragen nicht einfach zu lösen sein werden.

Zitierweise:
Patrick Halbeisen: Rezension zu: Christoph Maria Merki (Hg.): Europas Finanzzentren. Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., Campus Verlag, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 245-247.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 245-247.

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